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Aushalten & Raumhalten

Biggi Junge

Was das Leben mit einem alten Hund mit sich bringt


Dies ist ein Wunschartikel. Eine Zuhörerin meines Podcasts hatte sich eine Episode zu diesem Thema gewünscht und so bearbeite ich es nun auch in schriftlicher Form. Es hat sich ohnehin aufgedrängt, ist Charlie doch inzwischen über 13 Jahre alt. Zwar ist er für sein Alter noch relativ fit. Mit Unterstützung durch Medikamente, Akupressur, Nahrungsergänzung etc. kommt er noch ganz gut durch seine Tage. Aber es gibt eben auch Tage, da läuft es nicht ganz so gut.

 

Wie zum Beispiel heute.


Voll in die Scheiße gesetzt

Ich habe seit einigen Monaten einen neuen Arbeitsplatz, an dem ich häufiger übernachte, weil er ziemlich weit von meinem Wohnort entfernt ist. Charlie geht es dort nicht gut. Ihn stresst die ständige, räumliche Veränderung. Ich muss ihn zu oft alleine im Büro lassen. Da es eine Jugendherberge ist, muss ich ihn mit Rücksicht auf Gäst*innen mehr begrenzen als ich das möchte. Die vielen fremden Menschen, die steilen Treppen und die glatten Böden machen Charlie sehr zu schaffen. Ich sehe das alles und gebe mein Bestes, die Situation anders zu organisieren. Aber eine wirklich gute Lösung – ein eigenes Zuhause in der Nähe – ist nicht in Sicht.

 

Wenn ich in der Jugendherberge bin, hat Charlie sehr oft Magenschmerzen und Durchfall. Außerdem leidet er an einem Cauda Equina Kompressionssyndrom mit einer entsprechender Schwäche in den Hinterbeinen. Und so ist er heute früh, kurz nach dem Aufstehen und noch nicht wirklich wach, beim Lösen weggerrutscht und hat sich mit Popo und Hinterbeinen wortwörtlich voll in die Scheiße gesetzt. 

 

Da lag er nun, hilflos und mit bedröppeltem Gesichtsausdruck. Ich weiß nicht, ob Hunde Peinlichkeit empfinden. Im Umgang untereinander legen sie durchaus Wert auf soziale Etikette. Hinsichtlich körperlicher Prozesse sind sie aber vermutlich deutlich schmerzfreier als Menschen. Dennoch war ihm die Situation wohl unangenehm, denn er hat etwas ungehalten geknurrt, als ich ihm beim Aufstehen half.


Charlie direkt nach einer OP im Herbst letzten Jahres.

Aushalten

Was ging mir bei dieser Situation durch Kopf und Herz ? Es schmerzt mich natürlich, ihn so hilflos zu sehen, und dies nicht nur in der aktuellen Situation. Es ist viel mehr die Tendenz meines Kopfes, sich katastrophisierend in die Zukunft zu verabschieden und sich alle möglichen, noch viel schlimmere Szenarien auszumalen.


Der Fuß in der Tür des Katastrophisierens ist Pragmatismus, eine Art praktische Achtsamkeit. Ich bleibe im Hier und Jetzt und löse das unmittelbar anstehende Problem, in diesem Fall: wie ich den Hund wieder sauber bekomme. Die Lösung war ein Handtuch und ein Eimer mit Wasser. Der Rest trocknet und wird später ausgebürstet. So lange riecht der Hund halt etwas stärker.

 

Nicht, dass mich nicht auch regelmäßig ängstliche Hilflosigkeit überflutet, wenn ich Charlie im Alltag beobachte. Wenn ich bemerke, dass er mich in einer Entfernung von 5 Metern schon nicht mehr hört, außer wenn ich sehr laut mit ihm spreche. Und ich will mit meinem Hund nicht laut werden. Aus Prinzip nicht. Wenn ich bemerke, dass er die Rehe, die in Sichtweite übers Feld laufen, nicht mehr sieht. Und wenn er manchmal wie verloren herumsteht, so als ob er nicht wüsste, wie er dorthin gekommen ist oder wo er hin möchte. Dann, wenn es für mich nur noch ums Aushalten geht.

 

Präsent zu bleiben, ohne etwas tun zu können, ist eine der schwierigsten Übungen im menschlichen Leben. Wir sind alle darauf getrimmt, Probleme zu lösen, Dinge zu tun und Sachen zu machen. Vielleicht wird es leichter, wenn wir in diesem Satz ein Wort verändern: präsent zu bleiben, ohne etwas tun zu müssen. Denn was müssen wir denn tun, wenn wir gar nichts tun können ? Richtig, nichts; nur aushalten und zusehen, ohne wegzulaufen. Es ist nicht schön. Es ist nicht leicht. Aber es bedeutet die Welt für den Hund.


Da sein und da sein lassen.

Raumhalten

Hunde altern schneller als Menschen. Sie werden krank, inkontinent, dement und hilflos. Charlie ist der erste Hund, den ich durch diese Phase begleite und im Grunde bin ich dankbar für die Chance, mich in Etappen von ihm verabschieden zu können. Auch bin ich dankbar dafür, erfahren zu dürfen, wie sehr ein alter und kranker Hund seinen Menschen braucht. Ich darf für ihn einen Raum schaffen voll liebevoller, akzeptierender Präsenz, die sagt: "Es ist gut, ich bin hier für dich und ich liebe dich so, wie du jetzt bist."

 

Diese Form der akzeptierenden Liebe öffnet das Herz und schafft Raum darin, für alles, was ist, egal wie traurig, ängstigend oder verunsichernd. Gefühle wegzuschieben, schafft einen Rebound Effekt, der sie nur um so stärker zurückkommen und es immer schwieriger werden lässt, ihnen auszuweichen. Gefühlen Raum zu geben, bedeutet, ihnen ihren eigenen Rhythmus zu lassen, sodass sie auch von selbst wieder gehen können, wenn die Zeit gekommen ist.

 

Eigene Bedürfnisse

Charlie ist das Zentrum meines Herzens und meines Lebens. Ich denke ihn mit bei allem, was ich tue. Das ist anstrengend. Vor allem dann, wenn seine Bedürfnisse und meine kollidieren, was ziemlich häufig der Fall ist. Mein Mitgefühl mit und meine Verantwortung für ihn lassen mich seinen Bedürfnissen oft Priorität einräumen. Allerdings birgt dies eine Gefahr.

 

Ich werde ziemlich schnell angespannt und ärgerlich, wenn ich zu oft über meine eigenen Grenzen hinweggehe. Dabei ist es unerheblich, ob ich das aus Liebe tue. Mein Körper und meine Gefühle sagen mir dann ganz unmissverständlich, dass es jetzt reicht. Das Resultat ist, dass ich Charlie gegenüber manchmal pampig werde, obwohl der arme Kerl gar nichts dafür kann.

 

Deshalb ist wichtig, dass du deine eigenen Bedürfnisse im Blick behältst und im Alltag so gut für dich selbst sorgst, dass du auch mal über deine Grenzen hinaus gehen kannst, ohne sofort aus der Kurve zu fliegen. Das betrifft Ernährung, Schlaf und Entspannung ebenso wie ganz individuelle Dinge. Schau dir typische Situationen im Alltag an, in denen deine Bedürfnisse und die deines Hundes auseinander gehen und denk Dir kreative Kompromisse oder Alternativen aus. Mir beispielsweise ist Bewegung als Stressabbau sehr wichtig. Da Charlie nicht mehr lange und nur noch sehr langsam spazieren gehen kann, denke ich aktiv über einen Buggy für ihn nach und ich habe meinen Crosstrainier im Wohnzimmer wieder aktiviert.


An welcher Stelle willst du etwas anderes als dein (alter) Hund und welche Kompromisse oder Alternativen fallen Dir ein ? Ich freue mich über deinen Kommentar, entweder unter diesem Artikel oder auf Social Media.


Herzlichst

Deine Biggi


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